Das im Folgenden dargestellte Konzept der Funds of Knowledge wurde in einem Kooperationsprojekt aus Lehrer*innen und Forscher*innen gezielt entwickelt, um Lehr- und Lernprozesse von minorisierten Lernenden zu verbessern und Lehrkräfte in diesem Bestreben zu unterstützen. So können Lehrkräfte den folgenden Ansatz nutzen, um die Lebenswelten und Lernerfahrungen von Lernenden zu ergründen um ihre eigene Lehrpraxis zu optimieren. Die Grundprämisse des Funds of Knowledge Konzepts lautet, dass sich Wissensbestände, welche sich Schüler*innen in Kontexten außerhalb des Klassenzimmers erworben haben – sei es im Haushalt oder in anderen sozialen Gruppen - in die Lehrpraxis integriert werden können und so Lernprozesse deutlich aufwerten.
Das „Fund of Knowledge“ Konzept – im Folgenden FofK genannt – entstand aus einem Forschungsprojekt der Universität von Arizona, welches in den späten 80er Jahren in der Stadt Tucson nah der mexikanisch/amerikanischen Grenze durchgeführt wurde. Stein des Anstoßes waren vorhandene Probleme im sozialen und pädagogischen Bereich die die Ausbildung von Minoritätsschüler*innen negativ beeinflussten (Moll et al., 1992). So führte eine verbreitete Stigmatisierung der jeweiligen Haushalte zu Diskriminierung und Exklusion in der Schule. Um dem entgegen zu wirken, wurde im Rahmen einer Lehrer*innen-Forscher*innen-Kollaboration ein Projekt entwickelt, welches auf folgenden ethnographisch gewonnenen Erkenntnissen beruhte: jeder Haushalt, egal ob wohlhabend oder arm, lokal verankert oder zugezogen, verfügt über einen reichen Fundus an Wissensbeständen. Diese sogenannten Funds reichen von spezifischem Erfahrungswissen, welches Kinder durch frühzeitige Beteiligung an alltäglichen Aktivitäten im Haushalt oder in der Pflege von Geschwistern erworben haben, hin zu Wissen & Praktiken, welche im jeweiligen sozialen Umfeld erlernt wurden.
Das ursprüngliche FofK-Projekt zielte so auf die Integration von außerschulischem Erfahrungswissen in die innerschulische Lehrpraxis ab. Dies stellt eine Veränderung der Wahrnehmung von Minoritätshaushalten dar, weg von einer Barriere für den Lernerfolg der Schüler*innen hin zu einer wertvollen Ressource (González 1995: 3). Durch begleitete Hausbesuche und qualitative Interviews ergründeten Lehrer*innen die jeweiligen vorhandenen Wissensbestände, um diese dann in konkrete Schulstunden zu integrieren. Das ursprüngliche Projekt resultierte in einer ganzen Reihe von Folgeprojekten in verschiedenen Ländern. Im europäischen Raum findet er in den letzten Jahren (und mit großer Verspätung) zunehmend Beachtung.
Dieser pädagogische Ansatz basiert auf zwei anthropologischen Erkenntnissen, nämlich (1) dass jede Form von Lernprozessen sozial eingebettet ist (Vgl Moll 1992, 1995); und (2) dass alle Menschen prinzipiell kompetent und sachkundig sind, basierend auf ihren unterschiedlichen Wissensquellen und persönlichen Erfahrungen. Der erste Schritt besteht aus dem Ergründen der Lebenswelten von Lernenden, um die jeweiligen Wissensbestände zu identifzieren. Die Bandbreite an ethnographischen Methoden ermöglicht eine Reihe an kreativen und experimentellen Herangehensweisen. Die klassische Form von ethnographischen Hausbesuchen ermöglicht intensive Begegnungen mit den Lebenswelten von Lernenden. Alternative Formen wie Eltern- oder Kind-geführte Stadtteilspaziergänge haben sich auch als nutzbringend erwiesen. Weiterhin wurden auch im Klassenzimmer eine Vielzahl von Methoden erprobt, in welchen Schüler*innen durch Mal- oder Schreibaufgaben Einblicke in ihre Erfahrungswelten geben. Alle diese Methoden erfordern ein Training in interkulturellen Begegnungen, wie z.B. Hausbesuchen, und die Entwicklung von sensiblen und pädagogischen Arbeitsmethoden im Umgang mit den neu gewonnenen Einblicken in die Lebenswelten der Schüler*innen.
Der zweite Schritt besteht aus den verschiedenen Trainingsübungen, welche Lehrer*innen sowohl dabei unterstützen, ihre eigene Lehrpraxis zu reflektieren, als auch ihre Rolle in Bezug auf kulturelle Vorannahmen zu hinterfragen. Im ursprünglichen Projekt nahmen Anthropolog*innen an Schulstunden teil und diskutierten ihre Beobachtungen danach mit dem/r Lehrer*in, insbesondere um auf potentielle blinde Flecken in der Klassendynamik aufmerksam zu machen. Alternativ können problematische Situationen durch Gedächtnisprotokolle des/r Lehrer*in und Dialoge mit anderen Lehrer*innen analysiert werden. In einer anderen Übung untersuchten Lehrer*innen ihren eigenen familiären Hintergrund über drei oder vier Generationen, um Bewusstsein für ihre eigene spezifische Lebenswelt, Erfahrung und soziale Position zu schaffen, welche in einigen Fällen stark mit denen der Schüler*innen kontrastierte. In der Literatur ist einstimmig dokumentiert, dass Lehrer*innen im Nachhinein diese Formen von Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte, Erfahrung, Position und ihrem eigenen Unterrichtsstil als ungemein bereichernd empfunden haben.
Diese so erlangte selbstreflexive Sensibilität ist wiederum die wesentliche Grundvorraussetzung um den dritten, letzten und vielleicht wichtigsten Schritt im FofK-Ansatz zu realisieren: Schulstunden zu konzipieren. Durch das Integrieren von identifizierten Wissensbeständen können Lehrer*innen auf didaktisch sinnvolle und pädagogisch sinnhafte Weise Lehreinheiten maßschneidern. Dies hilft dabei, Lernprozesse in die tatsächlichen Lebens- und Erfahrungswelten der Lernenden einzubetten. Dieser Prozess kann keinen festgelegten Ablauf haben; vielmehr liegt der Fokus auf dem Betreuen von und dem Reagieren auf den jeweiligen spezifischen Kontext. Der FofK-Ansatz ist in seiner Essenz ein transformativer Lernprozess, durch welchen Lehrende die pädagogische Kompetenz erwerben, außerschulische Wissensbestände und Erfahrungen in das Curriculum zu “übersetzen”.
Das “Bridge” Projekt - ein Nachfolgeprojekt des FofK-Ansatzes mit einem spezifischen Fokus auf das Fach Mathematik - zielte darauf ab, mathematische Wissensbestände aus dem sozialen Umfeld der Schüler*innen in den Unterricht zu integrieren (Civil 2007:5f). Um den Unterricht in diesem Sinne maßzuschneidern, suchten Lehrer*innen während Hausbesuchen gezielt nach mathematischen Wissensbeständen, dem “Rohmaterial” für die kommenden Lehreinheiten. Nachdem ein Lehrer berichtete, dass ihm bei einem Hausbesuch eine Sammlung ausländischer Münzen gezeigt wurde, fiel anderen Lehrer*innen bei Hausbesuchen vermehrt auf, dass ein bedeutender Teil der Klasse im Rahmen ihrer Migrationserfahrung über einen reichen Erfahrungsschatz bezüglich verschiedener Währungen, Konvertierungsraten und Umrechnungsprozessen verfügte. So entwarfen Sie Lehreinheiten für Dritt- und Fünftklässler*innen über natürliche Zahlen bzw. Dezimalstellen und entwickelten "Klassenwährungen" für die Berechnung von Wechselkursen und die Durchführung von Preisvergleichen. Weiterhin berichteten die teilnehmenden Lehrer*innen, dass sich die Schüler*innen neben rein mathematischen Aspekten intensiv mit den sozialen Dimensionen von Geld (Eigentum, Soziale Absicherung, Lebensmittelstempel, monatliche Budgetierung etc.) auseinandersetzen und sich dabei sowohl als Lernende als auch als Experten in diesem Wissensgebiet herausstellten (Vgl Civil 2007: 6ff).
Die Arbeit mit dem FofK-Ansatz erfordert eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kapazität im Hinblick auf respektvollen Umgang, ethischer Sensibilität sowie der Entwicklung von vertrauensbasierten Beziehungen.
Doing school; Ethnographic gaze; informal & formal learning; community knowledge
Civil, M. (2007). Building on community knowledge: An avenue to equity in mathematics education. In N. Nassir & P. Cobb (Ed.), Improving access to mathematics: Diversity and equity in the classroom. (105-117). New York, NY: Teachers College Press.
González, N. (1995). The funds of knowledge for teaching project. Practicing Anthropology, 17. 3–6.
González, N., Moll, L. C., & Amanti, K. (2005). Funds of knowledge: Theorizing practices in households, communities, and classrooms. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates.
Moll, L., Amanti, C., Neff, D., & González, N. (1992). Funds of knowledge for teaching: Using a qualitative approach to connect homes and classrooms. Theory into Practice, 31, 132–141.
Paul Sperneac-Wolfer, Christa Markom, Jelena Tosic (AUSTRIA)
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